Braucht die Medizin eine (philosophische) Ethik?
von Otfried Höffe

Konjunktur oder Krise?

Die medizinische Ethik erfreut sich einer Konjunktur, um die ein Wirtschaftsminister sie nur beneiden kann. Nach einer langen Zeit verhaltener Debatte spielt sie, mittlerweile eine sowohl akademisch wie politisch wichtige Rolle. Ihr besonderes Profil, die Beziehung von Medizin und philosophischer Ethik, angereichert um Moraltheorie und einschlägige Bereiche der Rechts- und Sozialwissenschaften, stellt die Kreativität der Universitäten unter Beweis, hier die vielfach angemahnte Fähigkeit zur interdisziplinären Arbeit.

Über dieser Erfolgsgeschichte darf man allerdings eines nicht vergessen: der Ruf nach (philosophischer) Ethik ist ungewöhnlich, sogar so unerwartet wie für einen gesunden Menschen der Besuch beim Arzt. Die Ethik taucht auf, wo überkommene Lebensweisen und Institutionen ihre Geltung verlieren; sie ist ein Alarmzeichen, zumindest ein Krisensymptom. Wo man über Moral nachdenken muß, wird sie nicht mehr wie selbstverständlich praktiziert. Wo die Ethik aufblüht, steht es schlecht um die Sitten der Gesellschaft.

Das Nachdenken über die Moral kann aber zu neuen Grundlagen führen, an denen erneut Sitten und Recht entstehen, eventuell sogar feierliche Selbstverpflichtungen wie etwa der hippokratische Eid. Was Ethik war, wird - wieder - zum Ethos.

In diesem Sinn hat die Ärzteschaft lange Zeit zwar ein Ethos, aber keine (philosophische) Ethik gebraucht. Eher ging die Philosophie bei der Medizin in die Lehre. Vor allem in der Neuzeit nehmen sich gro▀e Denker und Forscher gern das Muster eines Arztes, Hippokrates, zum Vorbild. Weil die Antike, namentlich Aristoteles, das Erkenntnisideal in einer zwar nicht unnützen, aber nutzen-freien Theoria, eben der Metaphysik sieht, die Neuzeit sich dagegen auf etwas verpflichtet, das die Medizin beispielgebend praktiziert, auf einen Nutzen, kann man die dabei stattfindende Umwertung der erkenntnisleitenden Interessen unter eine Devise stellen, die dem Selbstbewu▀tsein der (in klassischer Zählung) dritten Fakultät schmeichelt: Medizin statt Metaphysik.

Die heutige Konjunktur der medizinischen Ethik ist keine Kleinigkeit. Sie erklärt die angedeutete Situation einer Asymmetrie - die Medizin nur als Vorbild - für beendet. Wir fragen, ob es dafür gute Gründe gibt. Befindet sich die Medizin in jener moralischen Krise, die die philosophische Ethik auf den Plan ruft?

Ärztliches Ethos

Ein berühmter Arztsohn, Aristoteles, hat auf ein Dilemma ärztlicher Ausbildung hingewiesen, wenn er sagt: "Der Arzt heilt nicht einen Menschen, sondern Kallias oder Sokrates." Der künftige Arzt studiert Medizin und wird durch bloße Medizin noch nicht zum Arzt. Als Mediziner verfügt er über naturwissenschaftliche Kenntnisse und darüber hinaus über Techniken der Diagnose und Therapie. Wer nun darin Kreativität entwickelt, ist zur medizinischen Forschung fähig. Zum Arzt wird er aber erst, wenn er die entsprechenden Kenntnisse und Techniken im Einzelfall anzuwenden versteht. Jeder, der Regeln lernt, bedarf zusätzlich der Fähigkeit, die Regeln fallgerecht anzuwenden; er braucht so eine neue, dritte Kompetenz - Urteilskraft.

Eine notorische Schwierigkeit medizinischer Ausbildung besteht nun darin, da▀ man die Urteilskraft nicht wie naturwissenschaftliches und technisches Wissen lernt; dieses wird im üblichen akademischen Sinn gelernt, jenes in der Praxis eingeübt. Wer es anders sieht, erliegt einem "medizinischen Fehlschluß"; er hält den bloßen Mediziner, den Heiltechniker, schon für einen Heilkundigen, für einen Arzt.

Selbst das Zusammenspiel der drei Kompetenzbereiche Naturwissenschaft - Diagnose und Therapie - Urteilskraft reicht aber nicht aus. Hinzukommen muß ein bunter Strauß von Eigenschaften, wie etwa Sorgfalt, Einfühlungsvermögen und Gelassenheit, ferner zeitliche Verfügbarkeit, nicht zuletzt die Bereitschaft zur gründlichen Fortbildung. Diese Eigenschaften bilden das ärztliche Ethos. Lernen kann man es nicht durch Philosophie, Moraltheologie oder Rechts- und Sozialwissenschaften, sondern durch Vorbild und Nachahmen, also ähnlich wie die Urteilskraft durch Einüben.

Gegen den Gedanken eines ärztlichen Ethos erhebt sich das Bedenken, hier würden Sonderverpflichtungen aufgebaut. Die Ethik kann aber das Bedenken entkräften. Sie zeigt nämlich, daß es ein analoges Ethos auch in anderen Berufen gibt und daß es hier wie dort das Gewicht einer Funktionsbedingung hat. Ein Richter muß über Unparteilichkeit verfügen; andernfalls verfehlt er seine Aufgabe; er spricht nicht Recht, sondern Unrecht. Analog gehört zum Beamten Unbestechlichkeit, zum Sportler Fairneß - und zum Arzt, daß er ohne Einschränkung dem Wohl seines Patienten dient.

Das Patientenwohl als h÷chstes ärztliches Prinzip hat allerdings den Rang einer moralischen Binsenwahrheit, weshalb es dafür keiner philosophischen Ethik bedarf. Besser als der Ethiker spricht über das ärztliche Ethos der erfahrene Arzt. Und noch besser sind gute Ärzte, die das ärztliche Ethos Tag für Tag praktizieren und auf diese Weise für die junge Ärztegeneration als Vorbilder leben.

Neuartige Entscheidungsaufgaben

Sieht man von der angedeuteten Hilfestellung ab, so ist für das ärztliche Ethos keine Philosophie vonn÷ten. Mehr als eines ärztlichen Ethos, einer veritablen Ethik bedarf es aus dem Grund, daß die Ärzteschaft seit einiger Zeit mit neuen, sogar grundlegend neuartigen Entscheidungsaufgaben konfrontiert wird. Zum Beispiel im Umkreis der künstlichen Befruchtung: Inwieweit ist eine Embryonenforschung erlaubt, bei der man Leben vernichtet, längerfristig aber auch therapeutischen Zwecken dient? Oder: Darf man an der menschlichen Keimbahn Untersuchungen mit dem Ziel der Manipulation vornehmen, obwohl sie einerseits schwer abschätzbare Gefahren bergen, andererseits zu diagnostischen und therapeutischen Hoffnungen Anlaß geben? Oder die wieder aufgebrochene Frage zum Lebensende: Das sogenannte Hirntodkriterium erlaubt die Entnahme lebensfrischer vitaler Organe aus irreversibel komatösen Patienten. Oder auch: Soll man eine Behandlung beginnen, die zwar eine gewisse Restchance bietet, bei der aber mit höchster Wahrscheinlichkeit herauskommt, was im Englischen 'vegetable' heißt: ein nur noch vegetativ lebender Körper? Nicht zuletzt stellen sich schwierige Eigentumsfragen: Wem gehört das Blut, das bei einer zu diagnostischen Zwecken vorgenommenen Blutentnahme übrig bleibt; wem gehört es vor allem dann, wenn sich bei der Verwendung des Blutes lukrative M÷glichkeiten eröffnen?

Ein weiterer Typ von Fragen ergibt sich aus der Begrenztheit medizinischer Ressourcen: Ist vertretbar, was Großbritannien kennt, eine strenge Altersbegrenzung etwa bei Karzinomoperationen oder bei Transplantationen? Oder auch die Frage, die bei immer knapperen Haushaltsmitteln zwar dringlich, wegen des sozialpolitischen Sprengstoffs gleichwohl verdrängt wird: Welchen Anteil am Bruttosozialprodukt sollen wir dem Gesundheitswesen geben? Immerhin haben sich in knapp zwei Jahrzehnten in den alten Bundesländern (von 1970 bis 1989) die Pro-Kopf-Ausgaben fast vervierfacht und der Anteil am Bruttosozialprodukt ist von 6,4% auf 9,2%, also um 44% gestiegen (Statistisches Bundesamt 1992, 210). Der Anteil des Bildungswesens hat dagegen um weniger als 10% zugenommen (er stieg von 4,1% im Jahre 1970 auf 4,4% im Jahre 1989). Bewerten will ich diese Entwicklung nicht, wohl aber auf einen Prioritätenkonflikt aufmerksam machen und zusätzlich darauf, daß die Bildung vor allem der Jugend zugute kommt, das Gesundheitswesen dagegen in zunehmendem Maß älteren Menschen.

Weil bei derartigen Fragen das ärztliche Ethos nicht reicht, tritt die medizinische Ethik auf den Plan. In erster Linie nicht wegen krimineller Zumutungen, auch nicht wegen der Gefahr offensichtlichen Mißbrauchs, sondern wegen der Frage, wo denn der Mißbrauch beginnt.

Belanglos sind die Probleme sicherlich nicht, geht es doch um Güter, die in jeder Rechtsordnung h÷chsten Schutz verdienen, vor allem um den Schutz menschlichen Lebens, dann auch um Gerechtigkeit angesichts knapper Ressourcen. Nur: was genau diese Güter besagen, ist unklar, und diese Unklarheit stößt den Arzt in eine Hilflosigkeit, die weder durch die medizinische Kompetenz allein behoben werden kann noch durch deren Ergänzung um Urteilskraft und ärztliches Ethos. Hier bleibt der Arzt gegen die für ihn üblichen, die konkreten Fragen so lange hilflos, wie er die Antwort auf die Vor- und Grundfragen nicht kennt. Bei der ersten Gruppe konkreter Fragen heißen die Grundfragen: "Was ist menschliches Leben?"; "Was ist eine Person?"; "Wann will jemand leben?" Bei der zweiten Gruppe heißen die Grundfragen: "Wann will jemand sterben?", "Wann ist jemand gestorben?". Und bei der letzten Gruppe fragt sich: "Was ist angesichts knapper Ressourcen gerecht?"

Philosophische Ethik, so sagte ich einleitend, entsteht aus einer Krise. Hier zeigt sich nun: sie ist - hoffentlich - nicht die große moralische Krise, der Verlust des ärztlichen Ethos, sondern eine für die Moderne typische Krise: Aufgrund von Modernisierungsschüben - in der Medizin: durch neuartige Diagnose- und Therapiemöglichkeiten, in der Gesellschaft: durch ein gewachsenes, überdies demokratisiertes Anspruchsniveau - tauchen Fragen auf, die die Medizin beantwortet haben muß und doch allein, selbst in Verbindung mit ärztlichem Ethos, nicht beantworten kann. Die Notwendigkeit folgt also nicht, was alarmierend wäre, aus eklatanten Moralverstößen. Sie ergibt sich aber daraus, daß das selbstverständlich bleibende Leitprinzip so unmittelbar keine klare Orientierung abgibt. Wer nun weiß, daß das Patientenwohl Vorrang hat, weiß noch nicht, was ihm in einer pluralistischen Gesellschaft moralisch erlaubt, was ihm moralisch verboten ist. Diese Unklarheit liegt zunächst einmal vor; sie ist ein schlichter Tatbestand und nicht, wie uns Moralisten glauben machen wollen, ein Zeichen für den Zerfall der Moral. Für die Grundbereitschaft zur Moral bleibt das ärztliche Ethos und es allein zuständig. Für die nähere Definition der Bereitschaft braucht die Ärzteschaft jedoch - keineswegs immer, nicht einmal in der Regel, häufig genug aber doch - zur Ergänzung eine medizinische Ethik.

Mit ihr rundet sich die Einbindung der Medizin in den Kosmos der Wissenschaften ab. Durch die Grundlagen ihrer Diagnose und Therapie ist die Medizin mit den Naturwissenschaften, durch die Ethik ist sie zusätzlich mit der Philosophie, auch der Theologie, den Rechts- und Sozialwissenschaften verknüpft.

Prof. Dr. Otfried Höffe ist Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie an der gleichnamigen Fakultät

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